Der Anfang
21. Januar 2020Das neue Virus – irgendwo in China – erscheint langsam in der deutschen Medienpräsenz. Ich kontaktiere Kalle, der dort lebt und frage ihn, wie es geht und was es damit auf sich hat. Alles ist weit weg. Ich mache mir noch nicht wirklich viele Gedanken um ihn vor Ort, aber ein wenig nachdenklich bin ich schon geworden.
Erste Vorwahrnung
23. Februar 2020Kalle erwähnt in einem Telefonat von China aus, dass er sich mittlerweile mehr Gedanken um uns, als um die Chinesen macht. Zu diesem Zeitpunkt sind so gut wie keine Infektionsfälle in Deutschland bekannt.
Erster Impact in Italien
27. Februar 2020Ich schreibe folgende Zeilen nach China:
„Ich sehe gerade, dass man in den Genuß auch mit einer einfachen Tagesreise in Europa kommen kann“ Anbei verlinke ich ihm den folgenden Artikel:
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-italien-1.4814146
Ausbreitung und Relativierungen
2. März 2020Es ist ziemlich klar, dass sich das Virus in Deutschland ausbreiten wird. Eine Frage von Tagen oder Wochen, bis die Zahlen steigen werden.
Ich habe mich versucht möglichst breit zu informieren, da mir meine ärzliche Vorgeschichte ein wenig Gedanken macht. Es fehlen weiterhin fundierte Erkenntnisse, aber vieles deutet darauf hin, dass Gefäßerkrankungen, Bluthochdruck und Ähnliches zu den Hauptrisikofaktoren gehört. Ich werde vorsichtig. Im Zug beginne ich erste Klasse zu fahren, um überfüllte Abteile besser vermeiden zu können. Außerdem beginne ich Einkäufe im Bahnhof und Restaurantbesuche erst einmal vorläufig einzustellen, bis näheres bekannt ist.
Meine Kollegen reagieren in diesem Moment noch seltsam relativierend auf meine Bedenken. Hier zeigt sich das Dilemma des gemeinen Systemadministrators. Auf der einen Seite beruflich stets bemüht, den kleinsten Riskofaktor aus dem Weg zu räumen, Redundanz und Ausfallsicherheit zu gewährleisten. Auf der anderen Seite affektiver Gegner des Mainstreams, der sich von jedem Anflug von Massenhysterie zu schützen versucht. In diesem Fall scheinen die beiden Eigenschaften kontraproduktiv zu verlaufen, befürchte ich. Die Affektivität lässt sich auch sehr gut am Aufblitzen der Augen erkennen. Etwas, was der ganzen Sache eine aufregend psychologische Note verleiht.
Anmerkung: Viel interessanter ist in diesem Aspekt aber die Halbwertzeit dieser erwartbaren Reaktion,wenn man es über den kurzen Zeitraum der folgenden zwei Wochen betrachtet.
Ab ins Home-Office
6. März 20206. März 2020: Mein Arbeitgeber verschickt ein Infoschreiben und bietet Angehörigen von Risikogruppen an, ins Home-Office zu gehen. Ich mache meinen Arbeitsplatz im Büro „katastrophensicher“, packe die wichtigsten Sachen ein und fahre nach Hause.
Der neue Rationalismus
9. März 2020Ich bin im Privatleben ein sehr chaotischer Mensch. Vieles fange ich an, viel lasse ich liegen. Mein Alltag ist nicht sonderlich strukturiert. Es sei denn äußere Begleitumstände zwingen mich zu sehr dazu.
Die ist nun die erste Woche im „Home-Office“.
Gut. So manche Tag habe ich schon von zu Hause gearbeitet. Aber das hier ist neu. Es ist mir ziemlich klar, dass es ein paar Wochen andauern wird.
Als erstes mache ich mir einen Plan mein Arbeitszimmer einzurichten. Ich hänge ein großes Whiteboard auf, was sich einige Tage später zum Agile-Katastrophen-Board im Flur wiederfinden wird, als Versuch den Rest der Familie möglichst schnell in die neue Realität einzuschwingen.Der Ablauf der ersten Woche macht mir sichtlich Spaß. Alles ist neu, alles ist ungewiss. Etwas, dass ich eigentlich liebe. Ja, ein wenig Angst ist auch dabei, aber die fügt sich recht schnell dem Gefühl des rationalen Krisenhandlings. Ich fühle mich wohl in der Erfahrung, dass mein stets unsteter Geist in einer Krise und quasi über Nacht zu einem organisierten Krisenmanager metamorphiert.
Einstieg in die Expontialität
16. März 2020In dieser Woche beginnt etwas, was die ganze Sache plötzlich in erschreckender Weise berechenbar machen wird. Die Infektionen entwickeln sich in Richtung eines exponentiellen Wachstums, was zu erwarten war. Aber die Erfahrung von Expontialität war bisher eher Mathematikern vergönnt oder Dokumentarfilmern beim Dreh eines Pyroklastischem Stromes, Hurrican-Jägern oder ähnlichen Exoten. Jetzt wird das ganze Alltagstauglich. Und in frappierender Weise ähnelt es meiner täglichen Arbeit als Systemadministrator in Bezug auf die Lastabschätzung überlasteter Serversysteme etc.
Ich mache mir den Spaß und berechne die zu erwartetende Anzahl der Infektionen der nächsten 45 Tage.
Die nächsten Wochen verbringe ich mit dem fast täglich auftretenden, irritierenden Gefühl, dass etwas so Unbekanntes wie in Teilen aber auch Vorhersagbares und zugleich so Unfassbares sich so real manifestieren wird, immer und immer wieder.Diese Berechenbarkeit steht aber auch im krassen Gegensatz zu der totalen Unvorhersehbarkeit, was die sonstigen Faktoren der Pandemie anzugehen scheint. Niemand weiß, wie lange sich die exponentielle Phase ausbreiten wird, was uns helfen wird dagegen zusteuern. Wie genau das Virus überhaupt funktioniert, etc. Die Faktoren, die wir berechnen können, sind Ausbreitung, durchschnittliche Beatmungen, einen Ausschnitt der gemittelten Letalität und die Anzahl der Krankenhausbetten. Dahinter scheinbar nichts.
Erste Irrlichtlinge im Anflug
10. Mai 2020Da sind sie, die ersten vermeintlichen Corona-Rebellen. Erschreckender Weise – aus dem linksalternativen Milieu. Dinge rezitierend, die keinen Sinn ergeben und die keinen Konsens finden, da die Details geschickt umgangen werden. Das wird noch eine traurige Entwicklung nehmen, fürchte ich. Ist das eine logische Folge des Wutbürgertums? Lange vor der AFD und auch vor Pegida hat sich dieses gebildet. In den ersten Ansätzen seinerzeit von NPD und den Republikanern forciert. Menschen mit einem schlechtem politischen Selbstwertgefühl, die endlich einmal auf den Tisch hauen wollen, Dampf ablassen, wichtig sein. Und dann noch Trump, gleiches Spiel. Weltweit dasselbe Schema. Argumente initial verdrehend. Gaslighting-Strategie. All das hat fatale Risse fabriziert, in die Moral der Umher suchenden. Hat sich verbreitet. Jetzt bekommen auch eher linksgerichtete Menschen ihre Chance. Esoteriker und Impfgegner. Endlich eine eigene Alternative Bewegung. Einen gemeinsamen Feind. Das dubiose „die da Oben“, „irgendwer“. Dann kommt da der innere Drang, stets gegen den Mainstream zu sein. Natürlich bedingungslos. Egal in welchem Bereich.
Es wäre mir egal, wenn ich mich nicht nun selber damit herumschlagen müsste, weil es in Bereiche meines Alltags zu ragen beginnt. Durch andere Eltern und Nachbarn. Zum Glück in kleinster Dichte bisher. Aber in einer Zeit, in der wir alle erst einmal Brandbekämpfung betreiben sollten, ist eine handvoll schon eine zu viel. Meine ersten Versuche, ins Gespräch zu kommen und rationale Aufklärung zu betreiben scheitern natürlich. Menschen sehen dieselben Graphen und manche kommen zu fatalen Fehlinterpretationen. „Flappende“ Kurven werden als fallend missdeutet. Andere werden komplett negiert. Es ist in etwa so, wie mit einem Zeugen Jehovas zu sprechen. Oder mit einem „Reichsbürger“. Nach ein paar Wochen ist es jetzt genug. Ich entschließe mich dazu keine weitere Zeit mehr zu opfern. Es gibt wichtigeres zu tun. Da wären so viele Dinge, die man jetzt angehen könnte, die lange schon einen Schub gebraucht hätten. Klimapolitik, Entschleunigung, ein gerechterer Kapitalismus, Solidarität und kollaborative Gestaltung in allen Bereichen. Das sind die Dinge, die jetzt anzugehen sind. Alles Lamentieren ist eine fürchterliche Verschwendung von Energie und kostbarer Zeit.
Kurze Pause
14. Juli 2020Bisher habe ich nur eine grobe Skizzierung der ersten 4 Wochen der C19 Krise hinbekommen. Aber es gibt da natürlich einiges mehr, was erwähnenswert ist. Ich merke gerade, wie spannend es ist, die Krise in ihren verschiedenen Aspekten auseinander zu pflücken und hoffe, ich kann ab dem Wochenende weiter machen. Morgen muss ich erst mal das tun, was ich vermeiden wollte. Ich muss mich zu einer Leistenbruchoperation in einem Krankenhaus einfinden. Wenn ich die OP gut wegstecke, dann kann ich die Tage weiter machen.
Stand Ende Juli 2020
28. Juli 2020Haben wir es in einem guten halben Jahr geschafft die Anzahl der jährljchen Grippetoten mit der COVID-19 Mortalität zu überbieten? Weltweit wohl gemerkt? Nach den 2017 korrigierten Schätzungen liegt das Mittel bei weltweit 250.000 bis zu 650.000 Grippetoten jährlich. Coronatote zum Vergleich, weltweit sind Stand Heute 660.000. Im Vergleich zum gerne bemühten Supergrippejahr 2017/2018 in Deutschland, sind wir hier mit unter 10.000 Coronatoten ja noch ganz gut aufgestellt. Allerdings wird in dem Vergleich auch gerne unterschlagen, dass in der Zahl von 25.000 Grippetoten in Deutschland 2017/2018, zum ersten Mal auch die Übersterblichkeit miteinbezogen wurde. Wie man es aus drehen mag, der Vergleich mit der Grippe hat sich zahlenmäßig schon längst überholt. In der Hälfte der Zeit.